„Der Lyrik- und Geschichtenband ‚Der Satz ins Weiter‘ ist buchstäblich sprungbereit, er wirbelt Fantastisches auf, entlockt den Räumen zwischen Wort und Wort Gedankenfreiheit und ist Landeplatz für ein Weiter. In dieser literarischen Hexenküche werden die Worte geraspelt, gewendet, gekehrt und damit zum Futter für Träume.“ Margo Fuchs Knill, Lyrikerin
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Liebes Vernissagepublikum
Eine Quartierstrasse in Bern. Eine Patchworkfamilie. Eine Schriftstellerin, die ein
Doppelleben führt. Ein Chefkoch, der in seiner Freizeit Holzfiguren schnitzt und
plötzlich erfährt, dass er Vater eines 3-jährigen Sohnes ist. Eine Frau, die in einer
Schublade ihres Mannes ein Gewehr findet … Das könnten typische Merkmale einer
Kriminalgeschichte sein! Suspense wie in einem Krimi oder Thriller, obwohl schon am
Anfang durch die Schlagzeile «Grossvater schiesst auf Enkelkind» der mögliche Täter
genannt wird. Trotzdem steigert sich die Spannung zunehmend bis zum dramatischen
Schluss, einem Countdown (nicht Showdown).
Hannelore Dietrichs neuer Roman mit dem menetekelhaften Titel «Zeichen an der
Wand» bietet aber viel mehr:
1. Das aufregende Doppelleben einer Schriftstellerin. Patricia macht den Spagat
zwischen zwei Existenzen: einerseits als Bettina Allmen, die im WortReich
Verlag anspruchsvolle, experimentelle Bücher à la Arno Schmidt publiziert –
anderseits als Uta von Seidel im Louise Verlag erfolgreiche Trivialromane
veröffentlicht. Patricia fällt aus dem Rahmen. Sie ist die einzige
Aussenstehende, die beobachtet und sich ihrerseits beobachtet fühlt. In der
Birkenallee wohnt sie nur vorübergehend und lebt manchmal in einer
Fantasiewelt, die sie zum Schreiben braucht. Da gibt es oft viel zu schmunzeln.
2. Die Familiengeschichte von Charlotte und Artur und ihrer alleinerziehenden
Tochter Viki. Die 8-jährige Enkelin Kaja wohnt während der Woche bei den
Grosseltern. Viki, die junge Mutter, führt eine Kleiderboutique.
3. Eine Liebesgeschichte, die sich zwischen Peter, dem Koch und Holzschnitzer,
und Viki, anbahnt. Beide haben je ein Kind. Es gibt Hoffnung auf eine Zukunft
der jungen Patchworkfamilie.
4. Eine Katastrophe, die sich lange im Voraus ankündigt. Es geht um
Wahnvorstellungen, die langsam, oft unbemerkt entstehen und sich
verheerend auswirken, wenn ein Mensch eines Tages durchdreht. Die
unheimlichen Zeichen wären deutlich zu erkennen, aber die Beteiligten sind zu
sehr mit sich und ihrem Alltag beschäftigt und schauen weg.
Die grosse Frage stellt sich: Was hätten die Einzelnen tun können, um das Unglück zu
verhindern?
In «Zeichen an der Wand» kommen Probleme unserer Zeit vor: Terrorangst,
Fremdenhass, religiöser Fundamentalismus (und seine Überwindung), Konflikte in
Patchworkfamilien und wie Kinder sich inmitten schwieriger Erwachsener
zurechtfinden müssen.
Die Autorin geht souverän um mit ihren Figuren, drei Gruppen verschiedenster
Menschen, und lotet deren Tiefe aus. Mit grossem Interesse an
zwischenmenschlichen Beziehungen, mit Empathie, Feingefühl und psychologischer
Sachkenntnis stellt sie die einzelnen Schicksale dieser kleinen, nicht heilen Welt dar.
Die drei Erzählstränge sind raffiniert zu einem Ganzen verwoben.
Wie ist Hannelore Dietrich, die als Lyrikerin zu veröffentlichen begonnen hat, auf die
Idee zu diesem gesellschaftskritischen Roman gekommen? Vor dem eigentlichen
Schreiben eines Textes geschieht bei ihr sehr viel durch Impulse von aussen (News in
den Medien, Lektüre) und Fragen wie: Was sieht man von Menschen, wenn man
ihnen begegnet? Es braucht meist Jahre des Nachdenkens, bis die Figuren da sind,
bedrängend. Dann kommen eigene Erlebnisse, Beobachtungen und Recherchen ins
Spiel, zudem bei Dietrich ein reicher persönlicher Erfahrungsschatz.
Gestaltungsfreude, Fantasie, Humor und ein achtsamer Umgang mit Sprache plus
lebendige Dialoge sind Voraussetzungen zum Gelingen eines Buches. All dies findet
sich in «Zeichen an der Wand», manchmal in verblüffenden Kleinigkeiten oder
Andeutungen.
Die beiden Mottos sind eine Einstimmung auf den Inhalt. Das erste stammt von
Günter Eich: «Alles, was geschieht, geht Dich an.» Ein philosophischer Satz.
Das zweite Motto ist von Ilse Aichinger: «Wer ist fremder, ihr oder ich? / Der hasst, ist
fremder als der gehasst wird, und die Fremdesten sind, die sich am meisten zu Hause
fühlen.» – Da schwingt ausser Verantwortungsbewusstsein und Warnung vor
Fremdenfeindlichkeit bereits das Thema «Familie»/Gemeinschaft» mit; die beiden,
der deutsche Lyriker Günter Eich und die österreichische Dichterin Ilse Aichinger,
waren verheiratet und hatten zwei Kinder.
Die Handlung beginnt in einem heissen Sommer, heute. Hitze passt perfekt zum
Unglück, das sich ein halbes Jahr im Voraus anbahnt.
Ort: die Birkenallee, eine typische Quartierstrasse, die im Berner Strassenverzeichnis
nicht aufgelistet ist, die es aber durchaus geben könnte. Ausserdem wird die Stadt
Bern detailgetreu beschrieben, denn die Autorin lebt mit ihrer Familie seit 1987 in der
Schweiz; die Schauplätze wiederzuerkennen ist ein zusätzliches Lesevergnügen.
Stilistisch ist «Zeichen an der Wand» wie aus Holz geschnitzt (aber nicht im Sinn von
holzschnittartig, in Schwarz-Weiss), sondern wie eine kunstvolle, feine
Laubsägearbeit, «hinter der sich eine Welt der Märchen und Wunder» verbirgt. Dazu
passt, dass Peter, ein auffallender Typ, ein Künstler, in seiner Freizeit Figuren, zum
Beispiel Bären und Krippen, schnitzt. Ich habe ihn sofort wiedererkannt, weil er in
«Vom Himmel gefallen», Hannelore Dietrichs erstem Buch in der edition 8, bereits
vorkommt. Wer mehr erfahren möchte über Peter (oder Pitt) und seinen Bruder Lee,
über ihre besondere Kindheit und ihren Bezug zu Bern, wird Lust bekommen, die
Lektüre des ersten, in sich abgeschlossenen Romans nachzuholen. Dort zeigt sich
bereits die ausgeprägte Begabung der Autorin, Kinder so zu beschreiben, dass man
sie sofort ins Herz schliesst: Kaja und der kleine Basti in «Zeichen an der Wand» oder
auch Stella in ihrem Jugendbuch «Stella und der Mauerläufer», 2018 erschienen.
Es kommen auch vor: Krähen, aus der Mythologie, aus Sagen und Märchen bekannt.
Die Krähe als Motiv könnte als Unglücksrabe, Galgenvogel interpretiert werden. Doch
Krähen, höchst intelligente Vögel, werden auch bewundert und gefüttert. Artur stört
sich am Krach und Dreck und hält sie in seiner wahnhaften Fantasie für Helfershelfer
der Terroristen.
Religion spielt bei Hannelore Dietrich, die Religion und Germanistik studiert hat, eine
wichtige, überzeugende Rolle. Charlotte ist in einem christlich-fundamentalistischen
Umfeld aufgewachsen und gläubig. Hilft ihre Religiosität ihr bei der Bewältigung ihres
komplizierten Lebens? Sie ist tüchtig, weltzugewandt und sozial eingestellt, kümmert
sich um ihre Tochter samt Enkelin und um Flüchtlinge. Artur, ihr Mann, Sportschütze,
wird aber immer mehr zu einem Problem, zu einem Waffen- und Ordnungsfanatiker.
Auch die Zeche Lohberg in Dinslaken, ein ehemaliges Kohlebergwerk im Ruhrgebiet,
wo die Autorin geboren und aufgewachsen ist, taucht im Roman auf.
Als Gegengewicht zum Unheimlichen, Dramatischen gibt es in «Zeichen an der
Wand» viel Heiteres, zudem Mode und Sex und eine Art Happy-End. Schon nur über
die Namen habe ich oft laut lachen müssen: Frau Lobesam mit ihrem Hund Napoleon;
Herr Fegebank vom WortReich Verlag; der Hauswart Klinge; der Kanarienvogel Xerxes
... Den ironischen Satz: «Elektronische Post vermehrte sich wie Fruchtfliegen in der
Küche» habe ich mir für immer gemerkt!
Es ist Hannelore Dietrich in bewundernswerter Weise gelungen, ein schwieriges,
kopflastiges Phänomen – krankhafter Wahn – umzusetzen in Literatur für eine breite
Leserschaft ohne psychologische Vorkenntnisse! Oft ist der Wahn, unter dem ein
Mensch leidet, selbst für die engsten Angehörigen nicht nachvollziehbar, sondern
absurd. Hass auf Fremde, Andersgläubige, Taten von Fanatikern, von Terroristen und
Fake News nehmen ständig zu! Während der Pandemie wurde es unmöglich,
Impfgegner von der Absurdität ihrer Behauptungen zu überzeugen.
Ich habe in «Zeichen an der Wand» Wichtiges über Wahnvorstellungen gelernt. Das
Thema Wahn, eine Fehlbeurteilung der Realität, finde ich gerade jetzt, angesichts von
Putins Krieg in der Ukraine, von erschreckender Aktualität. Als hätte Hannelore
Dietrich mit ihren feinen Antennen etwas vorausgeahnt …
Wer bei Hannelore, die Deutsch-Diplomkurse für Fremdsprachige gab und jetzt
Literatur und kreatives Schreiben unterrichtet, einen ihrer Kurse besuchen durft
oder darf, ist zu beneiden. Glück haben Sie nun, liebes Publikum, Hannelore als
Autorin aus ihrem neuen, wichtigen Roman vorlesen zu hören! Sie werden Lust
bekommen, «Zeichen an der Wand» ganz zu lesen – und werden es nicht bereuen.
Barbara Traber Juni 22
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Ansprache an der Lesung von Hannelore Dietrich
Andri Probst | Fachstelle Kultur, Köniz / 8.9.22
Lesung von Hannelore Dietrich in der Villa Bernau
in Bern-Wabern
Ansprache von Andri Probst, Leiter der Fachstelle Kultur der Gemeinde Köniz
Vielen Dank für die Einladung zur Lesung anlässlich des 40-Jahr-Jubiläums des Café littéraire.
40 Jahre, das ist fast so lange wie ich lebe und aus meiner Warte eine extrem lange Zeit für eine Literaturveranstaltung dieser Art. Ich gratuliere ganz herzlich und danke auch im Namen der Gemeinde Köniz für Ihr grosses und leidenschaftliches Engagement. Ich wünsche Ihnen, dass das Café littéraire weitere 40 Jahre bestehen und wirken möge.
Gegenüber unserer Wohnung steht ein gelber, ziemlich hässlicher Wohnblock mit geschätzt 10 Wohnungen. Bewohnt werden diese hauptsächlich von Personen aus ferneren Regionen, und obwohl wir seit 15 Jahren das markante Gebäude im Blickfeld haben, blieb es fremd. Man sieht manchmal jemanden hinaus- oder hineingehen, ein Mann raucht immer wieder auf seinem Balkon und von Zeit zu Zeit ertappe ich mich beim Beobachten und Fantasieren. Nicht immer sind meine Gedanken wohlwollend, Misstrauen schleicht sich ein, obwohl auch in meiner nächsten Verwandtschaft Migration stattfand.
Der Zufall will es, dass in kurzer Zeit aus dem anonymen und etwas hässlichem Wohnblock ein Ort wird, bei dessen Betrachtung ich nun positive und freundliche Gedanken habe. Was war geschehen?
Nun, ein Junge aus dem Haus geht seit einem Jahr in die gleiche Klasse wie unsere jüngste Tochter, mittlerweile haben die beiden Mütter (typisch, oder) dank den Arabisch-Kenntnissen meiner Frau auch privat etwas Kontakt. Seit August besucht ein 4-jähriges Mädchen, das mit seinen Eltern in der 1-Zimmer-Wohnung im EG haust, die Kita meiner Tochter, um Deutsch zu lernen. Und zu guter Letzt lernten wir vor einer Woche im Bus eine ältere Frau kennen, die seit über 10 Jahre im Block wohnt und gemeinsame Bekannte hat. Vielleicht ergibt sich irgendwann sogar die Gelegenheit, eine der Wohnungen von innen anzuschauen. Diese Entwicklung ist schön, fantastisch. Nur: warum brauchte es dazu die Kinder? Warum waren wir Erwachsene nicht fähig oder willens, selber und früher Kontakt aufzunehmen?
Frau Thöni, ich danke Ihnen, dass sie mich für diese kurze Rede angefragt haben, denn in der Folge las ich das Buch "Zeichen an der Wand" von Frau Dietrich. Und ich danke Ihnen, Frau Dietrich, dass Sie das Buch geschrieben haben, denn es hat mich dazu gebracht, über den gelben Wohnblock und mein Verhältnis zu den Menschen, die darin wohnen, nachzudenken. Und ich habe mir vorgenommen, beim nächsten Mal nicht mehr 10 Jahre zu vergeuden und die Kontaktaufnahme selber zu übernehmen.
Falls Sie sich, sehr geehrte Damen und Herren, nun fragen, was um Himmels Willen meine kurze Geschichte mit dieser Veranstaltung zu tun hat, dann rate ich Ihnen: Lesen Sie das Buch!
Denn Literatur kann Leben verändern.
Ich wünsche noch einen schönen Abend und danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.