Du sitzt auf der äussersten Sesselkante, wirklich, das wirkt, als wolltest du in der nächsten Sekunde aufspringen und davonlaufen. Merkst du nicht, dass deine Fussspitze nervös wippt und Richtung Tür zeigt. Nein, es hat keinen Sinn, dass ich anfange zu lesen. –
Bitte, bleib sitzen. Weisst du, ich wollte dir nur ermöglichen zuzugeben, dass du jetzt keine Zeit hast. Was hätte ich davon, wenn du nur mit einem halben Ohr hinhörtest. Ich warte gern auf einen für dich günstigeren Zeitpunkt. Ehrlich. –
Gut, gut, ich will dir glauben. Du solltest dich beim Zuhören aber doch ein wenig entspannen. Wenn du gemütlich sitzt, fange ich an zu lesen. –
Ja, ja, ich komme zur Sache. Lenk mich doch nicht dauernd ab. Was ich, bevor ich beginne, unbedingt noch sagen muss: Sprudle nicht gleich los, kaum habe ich den ersten Satz gelesen. Dies ist schliesslich nur ein Entwurf. Also unterbrich mich nicht mit Einzelheiten wie „Sagte man hier nicht besser …“ oder „Wie kommst du denn darauf?“ Hör einfach mal zu, falls du das fertigbringst. –
Ja, ich bin etwas unfreundlich. Das kommt, weil du mich mit deinen ständigen Einwürfen vom Vorlesen abhältst. Gleich wirst du mit Recht sagen: Ich habe keine Zeit mehr. –
Ach, weisst du was: Eigentlich will ich die Geschichte gar nicht vorlesen, jedenfalls nicht jetzt. Das heisst: Ich will schon, aber es ist auch diesmal noch zu früh; deine Fragerei würde mich durcheinanderbringen, und das wäre das Aus für sie. –
Doch, ich habe Vertrauen zu dir. Ich lese jetzt. Nur noch etwas vorher, eine Klitzekleinigkeit. Du weisst, glaube ich, bis jetzt noch nicht, was ich mir von dir erhoffe. Also, sag mir, und zwar klipp und klar, ob die Geschichte gut ist, ich meine, werden könnte. Ich will nämlich nicht, dass eine am Ende miserable Geschichte meine knappe Zeit frisst. Die Hauptarbeit liegt schliesslich noch vor mir. Ein Einfall, was ist das schon, ich meine rein zeitlich gesehen: nicht mehr als ein kurzer und erfrischender Regenguss. Und das erste Niederschreiben ist nichts anderes als ein beschwingter Flügelschlag. Aber was dann folgt – dieses Herumgefeile, diese Wort-hin-und-her-Schieberei, die Zeit vergeht, vergeht … Dabei bin ich fein raus, wäre ich vor hundert Jahren geboren, ich wäre statistisch gesehen schon seit mindestens zehn Jahren tot. Zum Beispiel beim achten Kind an einer Schwangerschaftsvergiftung gestorben. Doch das nur nebenher. Merkst du, wie wichtig dein Urteil für mich ist! Es entscheidet über die Nutzung von Sekunden, Minuten, Tagen, ja Wochen. Was ich alles tun könnte, wenn du der Geschichte den Todesstoss versetztest: ein Menü kochen, fernsehen, das Haus endlich mal aufräumen. Wenn ich allein an meine Zettelwirtschaft denke. Ich wag es kaum zu sagen, selbst im Gemüsefach des Kühlschranks habe ich eine Notiz gefunden. Ach, lassen wir das, ich weiss gar nicht, warum ich dir das erzähle. –
Das weisst du schon. Merkwürdig ... Dich interessiert vor allem, wie lang die Geschichte ist. Nicht ganz zwei Seiten. Zum Anfang und zum Schluss brauchst du übrigens nichts zu sagen: Beides ist mir noch nie so gut gelungen. Jedes Wort sitzt. Also, ich fange an zu lesen. –
Setz dich wieder, bitte. Als ob ich deine ehrliche Meinung nicht hören möchte. Schau her: Der Papierkorb steht neben mir. Ein Wort von dir und … Ja, dein Urteil entscheidet. –
Warum ich letzte Woche so beleidigt war, als dir der eine Satz nicht gefallen hat? Gleich der zweite. Das war nicht irgendein Satz, und ich war auch nicht beleidigt, nein, ich war tief verletzt. Ohne diesen Satz gäbe es diese Geschichte gar nicht. Er ist ihr Herz. Das kann man nicht herausschneiden, nicht ein Stückchen davon, ich meine nicht ein Wort, nicht mal ein Komma. –
Als ob ich dir den Mund verbieten würde. Unerhört, dass du mir das zutraust. Wenn du nur einmal genau hinhörtest, dann wüsstest du: Das ist DER Satz. –
Natürlich darfst du sagen, was du willst. Bin ich eine Diktatorin? –
Wechseln wir das Thema. Die Inhalte meiner Geschichten interessieren dich. Warum auch nicht? Du scheinst nicht zu begreifen, dass ich sie mir nicht aussuchen kann – wie einen Sommerhut zum Beispiel. Du willst mir doch wohl nicht im Ernst verbieten, über Einsamkeit und Streit zu schreiben. Ich schreibe doch nicht über uns. Was gäbe es da auch zu schreiben. Jeder Liebesroman, den du am Kiosk kaufen kannst, wäre mein Konkurrent, nein, wäre mir weit überlegen. So, jetzt lese ich aber endlich vor. Bitte sei ruhig. Es ist schon ein Kreuz mit dem Schreiben. Im Augenblick gelingt mir einfach nichts, also fast nichts, und Kritik kann ich dann schwer ertragen. –
Du stehst auf? Du musst gehen? Aber wieso denn?